Wenn die rechte Hand mit der linken streitet: Was Split-Brain-Experimente über uns verraten
Der Körper gehorcht dem Gehirn, aber was passiert, wenn das Gehirn in zwei Hälften geteilt ist und diese nicht mehr miteinander reden können? In den 1960er Jahren führten Neurochirurgen und Psychologen eine Reihe von Experimenten an Menschen durch, deren Corpus callosum – das dicke Nervenbündel, das normalerweise die rechte und linke Hemisphäre verbindet – durchtrennt worden war. Diese Patienten wurden operiert, um schwere epileptische Anfälle zu stoppen. Nach der Operation war die Verbindung zwischen den Hemisphären unterbrochen, und die Forscher bekamen die einzigartige Chance, zu beobachten, wie jede Hemisphäre unabhängig arbeitet.
Das Experiment, das dazu führt, dass man die eigene Hand packt
Eines der auffälligsten Beispiele beschrieb Roger Sperry, der für diese Forschungen 1981 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt. Dem Patienten wurden gleichzeitig zwei Bilder gezeigt: dem linken Auge einen Löffel, dem rechten Auge einen Bleistift. Da sich die Sehnerven kreuzen, gelangt die Information aus dem linken Auge in die rechte Hemisphäre und aus dem rechten Auge in die linke.
Die linke Hemisphäre (die normalerweise für Sprache zuständig ist) sah den Bleistift und konnte ihn benennen. Die rechte Hemisphäre sah den Löffel, konnte aber nicht sprechen. Als der Patient aufgefordert wurde, mit der linken Hand (unter Kontrolle der rechten Hemisphäre) einen Gegenstand zu nehmen, griff er nach dem Löffel. Wenn er jedoch aufgefordert wurde, die Wahl verbal zu erklären, sagte die Person: „Ich habe den Bleistift genommen“ – und gleichzeitig streckte sich die rechte Hand nach dem Bleistift, während die linke versuchte, den Löffel zu behalten. Manchmal ging es so weit, dass eine Hand die andere packte, um den „Fehler“ zu stoppen.
Warum das für die Psychologie wichtig ist
Split-Brain-Patienten zeigen, dass das Bewusstsein kein einheitliches „Ich“ ist. Jede Hemisphäre hat ihren eigenen Informationsfluss, eigene Wünsche und sogar eine eigene Wahrnehmung von Fehlern. Die linke Hemisphäre, die für Sprache zuständig ist, erfindet oft nachträglich Erklärungen – ein klassisches Beispiel für Konfabulation. Die rechte Hemisphäre, obwohl stumm, zeigt Emotionen, erkennt Gesichter und räumliche Beziehungen besser als die linke.
Diese Beobachtungen bilden die Grundlage für das moderne Verständnis der Lateralisation von Gehirnfunktionen:
- Linke Hemisphäre – Logik, Sprache, Sequenz.
- Rechte Hemisphäre – ganzheitliche Wahrnehmung, Emotionen, räumliches Denken.
Bei einem gesunden Menschen verbindet das Corpus callosum diese beiden Welten zu einem einzigen Bild. Fehlt die Verbindung, sehen wir, wie autonom jede Hälfte agieren kann.
Moderne Bestätigungen
Neurowissenschaftliche Bildgebung (fMRI) bei gesunden Menschen zeigt, dass die Hemisphären bei komplexen Aufgaben tatsächlich „streiten“. Zum Beispiel sind bei moralischen Dilemmata die linke Hemisphäre aktiver bei utilitaristischen Urteilen („besser fünf retten, einen opfern“), die rechte bei emotionaler Ablehnung von Schaden. Eine Studie von 2017 in Nature Communications (Decety & Cowell) bestätigte, dass Menschen bei künstlicher Unterdrückung der interhemisphärischen Verbindung (transkranielle Magnetstimulation) häufiger utilitaristische Entscheidungen treffen.
Kurioses für die nächste Party
Ein Split-Brain-Patient klagte seiner Frau, dass seine linke Hand manchmal die Knöpfe an seinem Hemd aufknöpfte, während er sich anzog. Die rechte Hemisphäre hatte offenbar eine eigene Meinung dazu, ob er das Haus verlassen sollte.
Was das für dich bedeutet
Du hast kein durchtrenntes Corpus callosum, aber Konflikte zwischen „ich will“ und „ich muss“, zwischen Emotionen und Logik – das sind tägliche Mini-Versionen dieser Experimente. Wenn das nächste Mal ein Teil von dir nach dem Kuchen greift und ein anderer „Diät!“ schreit, denk dran: In deinem Kopf leben auch zwei etwas unterschiedliche Charaktere. Und die einigen sich nicht immer.
Quellen für alle, die tiefer graben wollen
- Sperry, R. W. (1961). Cerebral organization and behavior. Science, 133(3467), 1749–1757.
- Gazzaniga, M. S. (2000). The split-brain revisited. Scientific American.
- Decety, J., & Cowell, J. M. (2017). The functional architecture of morality. Nature Communications, 8, 1474.