Blindsight: Sehen ohne zu sehen

Stell dir vor, du läufst durch einen Flur, weichst einem Stuhl aus – und hast keine Ahnung, dass er da war. Du siehst ihn nicht. Dein Bewusstsein sagt: „Nichts da.“ Aber dein Körper hat reagiert. Genau das passiert bei Menschen mit Blindsight (oder Blindsehen), einem der verblüffendsten Phänomene der Neurowissenschaft.

Wo sitzt das Problem?

Der visuelle Kortex (auch Sehrinde genannt) liegt im Occipitallappen, hinten im Kopf, direkt dort, wo der Schädel zur Nackenlinie hin schmaler wird. Genau hier verarbeitet das Gehirn, was die Augen aufnehmen. Ein starker Schlag, ein Sturz von der Leiter, ein Unfall oder ein Schlaganfall – und dieser Bereich kann beschädigt werden. Früher dachte man: Wenn der visuelle Kortex kaputt ist, ist die Person blind. Die Augen senden Signale, aber niemand „sieht“ sie.

Doch dann kamen die Experimente.

Die Entdeckung: Sehen ohne Bewusstsein

In den 1970er Jahren untersuchte der britische Neurowissenschaftler Lawrence Weiskrantz Patienten mit genau solchen Schäden. Einer davon, bekannt als Patient D.B., hatte nach einer Operation im Hinterkopf sein bewusstes Sehen auf einer Seite verloren. Weiskrantz bat ihn, auf einen Bildschirm zu schauen – und auf einen Punkt zu zeigen, wo ein Licht aufblitzte.

D.B. sagte: „Ich sehe nichts.“

Aber als man ihn bat, trotzdem zu zeigen – zeigte er genau hin. Wieder und wieder. Mit über 90 % Trefferquote. Er sah nichts. Aber sein Gehirn wusste, wo das Licht war.

Wie ist das möglich?

Die Augen senden Informationen über zwei Hauptwege ins Gehirn:

  • Der primäre visuelle Pfad (V1): Dieser Weg geht direkt in den visuellen Kortex und ist für die bewusste Wahrnehmung zuständig. („Was sehe ich?“) Bei Blindsight ist dieser Pfad beschädigt.
  • Der sekundäre Pfad: Dieser Weg läuft über den oberen Hügel (Colliculus superior) und andere subkortikale Strukturen (tiefere Hirnareale). Er steuert automatische Reaktionen wie Ausweichen, Greifen und Orientierung. („Wo ist etwas?“) Dieser Pfad bleibt intakt.

Das bedeutet: Die Augen funktionieren. Die Netzhaut nimmt das Bild auf. Das Gehirn verarbeitet es – aber nicht im Bewusstsein.

Was können Menschen mit Blindsight?

Die Fähigkeiten sind oft erstaunlich präzise, obwohl die Betroffenen darauf bestehen, nur zu raten:

  • Hindernisse umgehen, ohne sie zu „sehen“
  • Gegenstände greifen, die sie nicht wahrnehmen
  • Emotionen in Gesichtern erkennen (z. B. Angst oder Freude), ohne zu wissen, warum
  • Sich in Räumen orientieren, als hätten sie eine innere Karte

In einem berühmten Experiment lief ein Blindsight-Patient durch einen Flur voller Hindernisse – und stieß nirgendwo an. Gefragt, wie er das gemacht habe, sagte er: „Keine Ahnung. Ich hab nichts gesehen.“

Was sagt uns das über das Bewusstsein?

Blindsight zeigt fundamental: Sehen ist nicht gleich Bewusstsein. Wir denken, dass wir nur handeln, wenn wir etwas bewusst wahrnehmen. Aber ein großer Teil unseres Verhaltens läuft automatisch, unterhalb der Schwelle des Bewussten. Das erinnert an das Konzept des unbewussten Verarbeitens in der Kognitionspsychologie. Schon Sigmund Freud sprach von unbewussten Prozessen – aber Blindsight ist ein messbares, neurologisches Beispiel dafür.

Gibt es Studien?

Ja. Neben Weiskrantz’ grundlegenden Arbeiten gibt es zahlreiche moderne Bildgebungsstudien, die diese Trennung von Sehen und Bewusstsein belegen:

  • Eine bekannte Studie von de Gelder et al. (2008) zeigte, dass Blindsight-Patienten Angst in Gesichtern erkennen können. Obwohl der visuelle Kortex (V1) ausfiel, reagierte die Amygdala (das Angstzentrum) auf die gezeigten Bilder.
  • Forschung mit fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) bestätigt wiederholt: Aktivität in subkortikalen Regionen reicht aus, um gezielte Bewegungen und emotionale Reaktionen auszulösen – ganz ohne bewusstes Sehen.
  • Die zentrale Referenz bleibt das Buch von Weiskrantz selbst: Weiskrantz, L. (1986). Blindsight: A Case Study and Implications.

Beobachtung aus der Praxis

Therapeuten, die mit Schlaganfallpatienten arbeiten (deren Sehkortex oft betroffen ist), berichten häufig: Manche Patienten „wissen“ intuitiv, wo Türen oder Treppen sind, obwohl sie angeben, im entsprechenden Gesichtsfeld nichts zu sehen. Mit gezieltem Training können sie diese unbewusste Fähigkeit sogar verbessern – ein Hoffnungsschimmer in der Rehabilitation.

Was bleibt?

Blindsight ist kein Science-Fiction. Es ist ein Fenster in die verborgene Intelligenz unseres Gehirns. Es zeigt: Wir sind nicht nur, was wir bewusst wahrnehmen. Ein Teil von uns sieht, handelt, navigiert – auch im Dunkeln.

Und vielleicht ist das ein Trost: Selbst wenn ein Teil des Gehirns kaputtgeht, findet es Wege. Nicht immer mit den Augen des Bewusstseins. Sondern mit dem, was darunter liegt.

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